Montag, November 13, 2006

Laurenz

Als meine Füße klein waren und die Beine kurz, so kurz dass ich Gullideckel nur mühsam überspringen konnte, wohnte ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern in einem Haus zwischen zwei Straßen. Das Haus war eigentlich ein halbes und im unteren Teil des halben Hauses, über dem Keller, war noch eine Wohnung - in der roch es nicht so wie Zuhause. Zwischen dem kleinen Hof voller schiefer Platten und der vielbefahrenen Straße war ein blau-braunes Tor, das alle zwei Jahre neu gestrichen wurde. Es ließ sich nur schwer öffnen, denn der silberne Knopf war rutschig und zu weit entfernt für die kurzen Arme der Kinder, die den Hof bewohnten. Die Straße, die nach links abging, hatte, so wie alle Straßen in der Gegend, einen Namen der sich an ihrer geographischen Lage orientierte. Sie hieß Hintergasse, war auch mehr eine Gasse als eine Straße, an dessen Anfang ein blaues Schild mit spielenden Kindern und einem Ball drauf, aufgestellt war. Die Straße, zu der unser Haus noch zählte hieß Hofhausstrasse und als wir uns das erste Mal Gedanken über den Namen machten, kamen wir uns vor wie die schlausten Detektive, weil wir nur Kraft unserer Köpfe und des Wissens um die Höfe dieser Straße, herausbekamen warum sie so hieß. Zwei Straßen weiter wohnte Laurenz. Ein rothaariger Junge den niemand so richtig mochte. Anna und ich hatten eigentlich nicht so richtig etwas gegen Laurenz, wir fanden es toll, dass er uns mit seinem Namen einen Anlass zum Kichern gab. Mittwochs stellten wir vor die Briefkästen unseres Hauses und warteten darauf, dass wir die Straße überqueren könnten. Wenn wir genügend Geduld aufbrachten, hielt irgendwann ein Autofahrer an und ließ uns hinüber. Dann bestiegen wir den Berg, der uns mühevoll zu erklimmen und steil erschien, kamen am Friedhof und der Kirche mit dem grünen Dach vorbei und gingen ins Gemeindehaus zu der Mädchengruppe, bei der wir Lieder sangen zu denen wir Hände und Arme bewegten. Am liebsten sangen wir das „Laurenzia“-Lied denn immer wenn alle anderen „Laurenzia“ sangen und in die Knie gingen, formten wir mit unseren Strichlippen in quietschigen Stimmen „Laurenz“ und dachten an den komischen Jungen mit den roten Haaren, den niemand so richtig mochte, obwohl nach ihm ein Lied benannt war.

Die Mottoparty ist voller Menschen die nicht verkleidet sind. Das ist das unausweichliche Schicksal von Motto- und Verkleidungspartys: die Umsetzung scheitert meist daran, dass die Verkleideten sich lächerlich vorkommen weil nicht alle verkleidet sind und dass die Unverkleideten ein schlechtes Gewissen haben weil sie sich nicht getraut haben oder keine Lust hatten sich zu verkleiden. Ich bin verkleidet, nicht bis zur Unkenntlichkeit und zum Glück hatte ich nicht genug Mut zur Hässlichkeit bei der Verkleidungsaktion im Vorhinein. Manchmal, so denke ich mir, ist es ganz gut hunderte Kilometer weit entfernt zu wohnen, von der Stadt in der man auf jeder Party, an jedem Ort jemanden trifft den man kennt und womöglich nicht wieder sehen will, entweder nach dem Abend oder schon zuvor. Tatsächlich, ich kenne kaum jemanden in den fünf Zimmern dieser WG die voller rauchender, trinkender Menschen sind, die es sich in den etlichen Polstermöbeln bequem gemacht haben. Die Party scheint noch nicht sonderlich fortgeschritten, alle sitzen in kleinen Gruppen zusammen und reden über Themen bei denen die anderen nicht mitreden können. Im Wohnzimmer steht ein Klavier mit heller Holzverkleidung, an dem im Halbstunden-Takt zu der Musik aus den Lautsprechern irgendjemand meist ungekonnt etwas spielt. Der Mann mit dem gestreiften Hemd unter dem T-Shirt scheint das Klavier nicht verlassen zu wollen, er lehnt sich an, er setzt sich auf den Deckel oder auf die Tasten und ab und zu spielt er etwas. Eine Bewohnerin der WG sagt kurz: „Der spielt richtig gut“ und geht weiter. Wir stellen uns dazu und hören hin, auch wenn die schlechte Hip-Hop-Musik im Hintergrund dieses Vorhaben erschwert. Irgendwie ist er nervös oder es sind seine Augen die unsicher wirken, mir gleichzeitig bekannt vorkommen, die dazu führen, dass der Mann am Klavier sonderbar wirkt, gleich auffällt, in seiner eigenen Welt vertieft ist. Er klappt das Klavier zu, lehnt sich an, streckt seine Beine entspannt von sich und dreht sich eine Zigarette aus teurem Ökotabak. Wir machen das, was man auf Partys immer macht. Über die Stadt reden in der man ist, über Musik oder das Studium. „Studierst du Klavier?“, „na, so halb“. Wir stellen uns mit falschen Namen vor, das gehört zu unserem Motto. „Ich heiß Laurenz“, sagt er und bemerkt zum Glück nicht, wie ich Kraft meines Kopfes die Geschichte zusammensetze, die Melodie von „Laurenzia“ in meine Ohren drängt und ich kurz in die Knie gehe.

2 Kommentare:

sebastian hat gesagt…

Eine sehr passende Charakterisierung dieses Leipfurts, das es wohl doch irgendwo zu geben scheint.

bigote@online.de hat gesagt…

sehr treffend geschildert das "am-klavier-lehnen" des laurenz'. genau so wars!